Wigstöckel 1996 Flyer (Frontside)
Wigstöckel 1996 Flyer (Backside)
Was war am trans*Aktivismus im Berlin der 1990er Jahre ‚wild‘? Und wo genau fanden diese ‚wilden‘ Jahre statt? Wo finden wir ihre Spuren mehr als dreißig Jahre später in einem sich permanent verändernden urbanen Raum? Unternehmen wir also einen Ausflug in die jüngere trans*Geschichte und schauen uns in einer Zeit um, als die Community buchstäblich divers wurde und dabei begann, sich selbst zu feiern.
Wir gehen zurück in die Nachwendezeit, die Umbruch und Aufbruch markiert, und begeben uns an zwei Orte, die sich in die queere Stadtgeschichte eingeschrieben haben und zugleich für eine Ost-West-Achse stehen. Eines lässt sich schon mal vorausschicken: Es ist keineswegs zu hoch gegriffen, die 90er Jahre als das Fundament des trans*Aktivismus nach der Jahrtausendwende zu bezeichnen. Das Jahrzehnt steht, wenn wir so wollen, für einen Kurswechsel.
Podiumsgespräch SO36 1995 Flyer
Oft ist im Zusammenhang mit der Nachwendezeit von Verlusten die Rede. Für die trans*Community trifft das kaum zu, denn sie gab damals das Startzeichen auf dem Weg zur Selbstbestimmung, der sich freilich als ein herausfordernder Langstreckenlauf erweisen sollte. Der historische Glücksfall der Ampelkoalition zwischen 2021 und 2024 hat schließlich das Erreichen der Zielgeraden mit dem Namen Selbstbestimmungsgesetz ermöglicht. Am Ende war es also auch eine Frage von Glück, was die trans*Community am Start freilich noch nicht wissen konnte.
Um zu begreifen, was Anfang der 90er Jahre so neu und wild war, müssen wir ein paar Schritte in die Geschichte zurückgehen. Trans*Aktivismus mit noch bescheidenen Organisationsstrukturen und ersten Netzwerkbildungen gab es in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren. Mit dem 1981 in Kraft getretenen sogenannten Transsexuellengesetz (TSG) (1) – letztendlich auch ein Erfolg des frühen Aktivismus – war ein erster Schritt in Richtung der rechtlichen Anerkennung von trans*Personen getan.
(1)
Das TSG regelte Namens- und/oder Personenstandsänderungen durch eine sogenannte „kleine Lösung“ (nur Namensänderung) und eine „große Lösung“ (Namens- und Personenstandsänderung). Für beide Varianten wurden zwei psychologische Gutachten verlangt, die sowohl Transsexualität bei der betreffenden Person diagnostizierten als auch mit der Prognose „dauerhaft“. Für eine Änderung des Geschlechtseintrags (Personenstandsänderung) war außerdem der Nachweis der „Fortpflanzungsfähigkeit" erforderlich, was durch eine geschlechtsangleichende Operation erfüllt wurde. 2011 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, hier liege eine Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit vor, womit die genannte Bedingung für eine Änderung des Geschlechtseintrags entfiel. Seither kann die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen unabhängig von körperlichen Merkmalen festgelegt werden.
In der DDR gab es seit 1976 eine Regelung für Namens- und Personenstandsänderung. Letztere hatte, wie beim TSG, als Voraussetzung eine medizinische Geschlechtsangleichung. Erlassen hatte die „Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten“ das Ministerium für Gesundheitswesen in der DDR. Die Verfügung wurde zwar angewandt, jedoch nie veröffentlicht. Lediglich Ehe- und Sexualberatungsstellen hatten davon Kenntnis.
In seinen Bestimmungen blieb es allerdings äußerst restriktiv, worin sich nicht zuletzt die Vorbehalte einer strikt heteronormativen Gesellschaft beim Thema trans* widerspiegelten. Wie sich zeigen sollte, enthielt es eine Reihe von massiven Grundrechtsverletzungen, die durch das Bundesverfassungsgericht in mehreren Verfahren kassiert wurden. Von echter Selbstbestimmung in Fragen der geschlechtlichen Identität war das TSG noch Welten entfernt. Gleichwohl beförderte es die Bildung von Selbsthilfegruppen und führte zum Ende der 1980er Jahre auch zu ersten Vereinsgründungen.
Doch die Frage der Repräsentanz wurde innerhalb der Community kontrovers diskutiert und das hatte zum Teil gravierende Folgen. Es ging um die Frage wer „echt“ und wer „nicht echt“ transsexuell sei. Wobei das „echt“ gleichgesetzt wurde mit einer medizinischen Geschlechtsangleichung. Das TSG hat dieses Denken in binären Geschlechterkategorien noch befördert und festgeschrieben – und vor allem die Psychopathologisierung. Damit waren automatisch all jene trans*Personen ausgeschlossen, die sich für andere Formen der Transition entschieden hatten und ihre trans*Geschlechtlichkeit nicht von dem Einsatz eines Skalpells abhängig machen wollten. Der Konflikt blieb im Grunde bis heute virulent und steht für eher reaktionäre Positionen, die das ‚biologische‘ Geschlecht gewissermaßen heiligsprechen, nur spielt dieser Konflikt im aktuellen trans*Aktivismus so gut wie keine Rolle mehr.
Dass dem heute so ist, liegt wesentlich an Weichenstellungen in den 1990er Jahren. Ausgelöst wurden sie durch die Erkenntnis, dass trans* ein Spektrum von Selbstverständnissen und Lebenswirklichkeiten zugrunde liegt und dass die Frage der Geschlechtszugehörigkeit nicht von körperlichen Merkmalen abhängt und schließlich, dass die Community nur solidarisch stark sein kann. Trans* wurde damals buchstäblich divers. Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch prägte den Begriff „Transpluralismus“. Wie kam es zu dieser Einsicht und dem damit verbundenen Bewusstseinswandel?
Um darauf eine Antwort zu finden, gehen wir am besten in die queere Subkultur Berlins. Dort ließ sich zumindest schon mal erproben, wie sich ein selbstbestimmtes Leben anfühlt. Das wiedervereinigte Berlin besaß vor allem zwei queere Zentren – das war im Ostteil der Sonntagsclub im Bezirk Pankow, in der Nähe der Schönhauser Allee gelegen (zunächst Rhinower Straße, später Greifenhagener Straße), und im Westteil das SchwuZ, das sich damals in einer Fabriketage auf einem Hinterhof in der Kulmer Straße befand und 1995 zum Mehringdamm umzog, später dann in die Rollbergstraße nach Neukölln, dem heutigen Domizil. Hinzu kam das SO36 in der Oranienstraße mit seiner bewegten Geschichte als Musikclub, in dem Punk und New Wave den Sound lieferten. Später gehörten die trans-queer-Partys mit zum Programm und ab 1996 das jährliche Wigstöckel-Festival.
TGNB 2001 Frontside
TGNB 2001 Inside
Ein nicht unbedeutender Aspekt der genannten Orte ist die queere Gegenöffentlichkeit, die sie ermöglichen und prägen und zugleich die Offenheit, die dezidiert lesbische oder schwule Orte eher nicht erfüllten. Der damals im Sprachgebrauch noch relativ neue Begriff queer ging dagegen über sexuelle und geschlechtliche Identitäten hinaus und schloss insbesondere nonkonforme, vor allem gender-nonkonforme Lebensweisen ein. Hinzu kam der Begriff Gender, der im Fall von Transgender den Akzent auf das soziale Geschlecht legte und für das sensibilisierte, was an Geschlecht Performance bedeutet.
Statt Limitierungen und Ausschlüsse bot Queerness neue Formen der Solidarität und Selbstermächtigung und brachte dabei unterschiedlichste Milieus zusammen. In den räumlichen Strukturen einer heterosexuell beherrschten städtischen Ordnung bilden queere Räume im wahrsten Sinne Freiräume. Wo und wie immer diese entstanden, ob als offener urbaner Raum oder als ein spontan besetzter, temporär organisierter Straßenraum oder als ein Club, so galt überall das zentrale Element der Offenheit und des inklusiven Community-Prinzips. Schwarmbildungen beruhten auf Diversität und vermittelten zugleich die Erfahrung kollektiver Identität. In diesen Räumen muss niemand seine Identität erklären und wird dort von niemandem in Frage gestellt.
Während der Sonntagsclub sowohl als subkultureller Treffpunkt wie auch als aktivistischer Ort fungierte mit einem Beratungsangebot und Selbsthilfegruppen und dem schon sehr frühen Versuch, trans*Tagungen zu organisieren, blieben die genannten Adressen im Westteil in der Hauptsache subkulturelle Zentren mit einem klaren Party-Schwerpunkt. Davon unabhängig arbeitete im Westteil die Selbsthilfegruppe SEKIS (Selbsthilfe-Kommunikations- und Informationsstelle).
TransNett Infoblatt Frontpage
TransNett Infoblatt Backside
Was jedoch beide Zentren verband, das war die grundsätzliche Offenheit für alle trans*Lebenswirklichkeiten. Ihr Prinzip war Inklusion. Das galt für die Arbeit des Netzwerks „TransNett“ im Westen wie für die von Nadja Schallenberg im Osten ins Leben gerufene Initiative unter dem Label „Transen Power“, begleitet von der Gründung der „Interessengemeinschaft für Transvestiten und Transsexuelle“, angedockt an den Sonntagsclub.
Ebenso verband West und Ost der selbstbewusste Auftreten der Akteur*innen. Nadja Schallenberg entwickelte dabei eine beachtliche mediale Präsenz. Gleichwohl heißt es in einem offenen Brief von 1992, adressiert an „Liebe Freunde“, dass es ihr nicht gelungen sei, eine Gruppe aufzubauen, auch beklagte sie die fehlende Unterstützung durch Schwesterorganisationen. Schwer zu sagen, was dafür die Gründe waren.
Irritierend bleibt freilich die Wortwahl in Schallenbergs Texten, wenn etwa in einem Flyer von der „Vereinigung für Menschen mit geschlechtlichem Geburtsfehler“ die Rede ist. Während „Transen Power“ Selbstbewusstsein signalisiert, klingt die defizitäre Selbstdarstellung „Geburtsfehler“ mindestens widersprüchlich. Überhaupt fällt immer wieder eine Diskrepanz zwischen ihrem offensivem Auftritt und einer defensiven Argumentation auf. Dennoch plädiert Schallenberg wie die Freund*innen im Westen klar für trans* als Spektrum von gleichwertigen Lebensentwürfen. Wie schon gesagt, es ist genau dieses Bewusstsein, dass dem trans*Aktivismus nach der Jahrtausendwende ein gesellschaftspolitisches Gewicht geben wird, um einerseits für eine vielfältige Community im Ganzen zu agieren und zum anderen, um trans*Rechte im Menschenrechtsdiskurs zu positionieren.
Eine Art Manifest stellt 1996 „TransNett“ als „eine Interessengemeinschaft zur Förderung von nicht geschlechts-identischen Lebensweisen“ vor, womit nicht-binäre, trans*geschlechtliche Lebensweisen gemeint sind. Unter der Rubrik „Wir haben“ ist dann beispielsweise „ein Recht auf Selbstbestimmung unseres Geschlechts“ genannt und „(noch) keine Lobby“, was sich Anfang der Nuller Jahre durch die Gründung des Transgender Netzwerks Berlin (TGNB), in dem sich die subkulturellen Anfänge widerspiegeln, und dann 2006 durch die Gründung von TransInterQueer e.V. ändern wird. Zu den erklärten Absichten von „TransNett“ gehört der Vorsatz: „der Öffentlichkeit beweisen, daß wir zusammenarbeiten können“. Sichtbar werden, Spaß haben, solidarisch sein, sich lustvoll ausleben, ist Teil der Selbstbeschreibung. Als Treffpunkt dient das Café Sundström unter der SchwuZ-Adresse am Mehringdamm.
Ebenfalls 1996 startet „TransNett“ das jährliche „Wigstöckel“-Festival. Als Vorbild für diese trans*Selbstfeier diente das ab 1984 bestehende „Wigstock Festival“ in New York, beheimatet in Manhattans East Village. In dem „Wigstöckel-Grundgesetz“ heißt es, es sei „eine als Party ‚getarnte‘ Politveranstaltung, deren Aufgabe es ist, der breiten Öffentlichkeit einen Einblick zu geben, was transgender für UNS bedeutet, wie wir miteinander umgehen, um die öffentliche Meinung dahingehend zu informieren, dass Transen-Klischees in den Medien nichts mit uns gemein haben.“ Man versteht sich als eine individualistische Solidargemeinschaft.
Der Partycharakter sollte uns allerdings nicht täuschen, denn die Politisierung spielt darin einen nicht zu unterschätzenden Faktor – Hedonismus und emanzipatorische Praxis gingen Hand in Hand. Der Kampf um Anerkennung stand klar im Vordergrund. Damit war die Aktivität nicht mehr hauptsächlich nach innen orientiert durch die Schaffung von Selbsthilfeangeboten, sondern die Community präsentierte sich jetzt in der Öffentlichkeit und suchte Sichtbarkeit.
Das Ziel aller Kämpfe um Anerkennung sei, so der Sozialphilosoph Axel Honneth, die Schaffung von sozialen Anerkennungsverhältnissen, die zur Selbstbeschreibung befähigen. Auch das geschieht und so gewinnt die Community allmählich Deutungshoheit über das trans*Sein. So gesehen ließe sich die trans*Geschichte auch als einen Lernprozess beschreiben. Mit dem heute existierenden Selbstbestimmungsgesetz ist der Prozess der Anerkennung einen bedeutenden Schritt vorangekommen, geboren wurde die Forderung an jenen queeren Orten vor dreißig Jahren. Energien, Ideen und emanzipatorische Praxis der 1990er Jahre hatten dafür die aktivistischen Parameter neu definiert. Zukunft ist immer auch ein Produkt der Vergangenheit. Die queeren Räume hatten dafür jedenfalls den Rahmen geschaffen.
Nora Eckert was born on March 14, 1954, in Nuremberg. Early on, she discovered her passion for the arts, which later developed into a critical engagement with them. Through her journalistic work, she aims to bring together meaning and sensuality, guided by a perception that reaches beyond the boundaries of academic specialization.
After finishing school in Nuremberg, she completed a two-year publishing internship in Giessen. It was a formative time that, among other things, taught her how to move forward. In late 1973 she moved to West-Berlin. This was the best and most consequential decision of her life. The city quickly became her beloved West Berlin, a source of inspiration in all areas of life. She found herself in a place that allowed her to become who she is. Since then, she has lived with the deep conviction that she is exactly where she is meant to be.