Text und Video: Dirk Sorge
Sehende Begleitung und Ideenaustausch: Katrina Blach
Abb. (c) Katrina Blach
Das Problem mit der „Herzensangelegenheit“
Barrierefreiheit ist für die BVG eine Herzensangelegenheit. Wir sollten uns von solchen Marketingsprüchen nicht einlullen lassen: Die BVG ist keine Person, kein Lebewesen und hat weder ein Herz noch eine Angelegenheit. „Herzensangelegenheit“ suggeriert, dass die BVG freiwillig Barrieren abbaut, obwohl sie es nicht müsste. Aber die Umsetzung von Barrierefreiheit ist eine rechtliche Verpflichtung, an die sich die BVG zwingend halten muss, egal was das Herz ihr sagt. Natürlich wäre es wünschenswert, dass die Mitarbeitenden nicht nur aus rechtlichen Gründen daran arbeiten, sondern weil sie überzeugt sind, dass es das Richtige ist. Aber das ist eben keine Voraussetzung für die konsequente Umsetzung von Barrierefreiheit. Die Einhaltung von Menschenrechten (vgl. UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 9) ist das absolute Minimum und daher nichts, was eigens erwähnt oder gelobt werden muss. Tatsächlich ist Barrierefreiheit aber für Menschen mit Behinderung eine Herzensangelegenheit. Ich bekomme regelmäßig Herzrasen und Schweißausbrüche, wenn ich mit dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) unterwegs bin und wieder mal etwas nicht klappt, obwohl ich alles minutiös vorbereitet habe. Ich habe auf den Stadtplan geschaut, die Route genau geplant und mir mental eingeprägt.
Dann habe ich geprüft, ob die Ansagen auf dem Bahnsteig mit den visuellen Anzeigetafeln und den Informationen in der App übereinstimmen. Es bestand begründete Hoffnung, dass das Ziel erreicht werden kann. Dann kommt der Gong und eine dieser Ansagen „… aufgrund eines Polizeieinsatzes… kurzfristiger Personalmangel… Bauarbeiten.“ Plötzlich muss spontan gehandelt werden und alle Pläne werden über den Haufen geworfen. Mir geht es hier nicht darum, im Allgemeinen über den ÖPNV und über die kaputt-gesparte Infrastruktur zu meckern. Ich will erklären, warum der öffentliche Raum für Menschen mit Behinderung kein Ort zum Flexen, Flirren und Fantasieren ist.
Jede Bewegung im öffentlichen Raum erfordert meine komplette Konzentration und Aufmerksamkeit. Ich muss jederzeit meinen mentalen Stadtplan mit dem abgleichen, was ich wahrnehme und woran ich mich erinnere. Und am besten habe ich neben der geplanten Route noch einen Plan-B und Plan-C parat, falls ich spontan ausweichen muss. Der öffentliche Raum ist für viele Menschen kein Wohlfühlort, kein Ort zum Verweilen und Entspannen. Viele halten sich hier nicht länger auf als nötig. Das gilt gerade für den ÖPNV, der Personen schnell und reibungslos von A nach B bringen soll. Für Menschen mit Behinderung ist der öffentliche Raum aber nicht nur auf diese allgemeine Weise unangenehm und stressig, sondern auf ganz spezifische Weise unangemessen. Die Bewegung ist selten reibungslos. Unsere Bedarfe wurden und werden oft nicht berücksichtigt und so kann bei uns der Eindruck entstehen, fehl am Platz zu sein.
Aus Sicht der Stadt- und Verkehrsplanung gehört der Stadtraum in erster Linie den Autos. Fahrend und parkend. Ganz gleich wie viel von der „Stadt für Alle“, „Stadt der Zukunft“ usw. gesprochen wird. Nach den Autos kommen Busse und Motorräder, dann diese beschissenen Elektroroller, die überall im Weg sind und dann Fahrräder. Ganz unten in der Prioritätenliste nach alten Menschen, Kinderwägen und Hunden kommen schließlich Menschen mit Behinderung. Und nein: wir sind eben nicht „alle irgendwie behindert“. Für mich ist ein spontaner Gleiswechsel nicht nur ärgerlich und stressig, sondern führt realistisch dazu, dass ich in den falschen Zug einsteige, weil ich die Anzeige nicht lesen kann oder sie nicht schnell genug finde.
Flanieren, bummeln und spontan rumhängen is‘ nich‘. Dafür fehlt mir im öffentlichen Raum einfach die Energie. Für mich ist – ungewollt – jede Bewegung im öffentlichen Raum eine Protestbewegung.
Infos über die drei U-Bahnhöfe
der U2 in Kurzform
U-Bhf Nollendorfplatz (U1/U3, U2, U4)
Der Bahnhof der U2 am Nollendorfplatz ist ein Hochbahnhof. Die beiden Gleise liegen in der Mitte und die Bahnsteige an den Außenseiten. Der Ausstieg ist jeweils in Fahrtrichtung rechts. Parallel zu den Bahnsteigkanten gibt es ein taktiles Bodenleitsystem. An beiden Enden befinden sich jeweils Treppen, also vier insgesamt. Jede Treppe hat Handläufe auf beiden Seiten. Jeweils in Fahrtrichtung vorne befindet sich die Einstiegshilfe für Rollstuhlfahrer*innen. In der Mitte jedes Bahnsteigs gibt es einen Aufzug, der die U2 allerdings nicht mit den anderen U- Bahnlinien verbindet, sondern nur mit dem Straßenniveau unterhalb der Hochbahn. Die Treppe, die sich in Fahrtrichtung Pankow hinten befindet, führt nach unten in eine Bahnhofshalle. Hier gibt es auch Rolltreppen, die allerdings nur hinauffahren und nicht hinunter. Um sie von unten kommend zu erreichen, müssen außerdem noch fünf weitere Stufen überwunden werden. Von der Bahnhofshalle führt eine weitere Treppe hinab zu den zwei unterirdischen Bahnsteigen der U1/U3 und U4. Und eine Rolltreppe führt von dort auch hinauf in die Halle. Bei den unterirdischen Bahnsteigen ist der Bahnsteig in der Mitte und die Gleise außen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war der unterste Bahnsteig wegen Bauarbeiten gesperrt. Ganz am Ende gibt es einen Aufzug, der die beiden unterirdischen Bahnsteige und das Straßenniveau verbindet. Zur U2 gelangt man mit diesem Aufzug allerdings nicht. Stattdessen muss man zwei Straßen überqueren, um zu den Aufzügen der Hochbahn zu gelangen. Für den Umstieg muss hier also viel Zeit eingeplant werden.
Die Bahnhofshalle hat zwei große gegenüberliegende Eingänge. Hier ist es in der Regel voll. Es gibt kleine Imbissläden, Fahrkartenautomaten und einen Foto-Automaten.
Von den akustischen Ampeln, die wir getestet haben, war ca. die Hälfte defekt. Immerhin gab es sie an allen Kreuzungen. Abgesenkte Bordsteinkanten und Bodenmarkierungen sind an allen Kreuzungen vorhanden. Das ist in Berlin noch nicht flächendeckend so.
Die Kreuzungen und der Straßenverlauf am Nollendorfplatz sind insgesamt sehr unübersichtlich. Es empfiehlt sich ein Blick auf die Karte vor dem Verlassen des Bahnhofs.
U-Bhf Bülowstraße (U2)
Der Bahnhof Bülowstraße ist ein Hochbahnhof und sein Aufbau ähnelt dem der U2 am Nollendorfplatz. Die beiden Gleise liegen in der Mitte und die Bahnsteige an den Außenseiten. Der Ausstieg ist jeweils in Fahrtrichtung rechts. Parallel zu den Bahnsteigkanten gibt es ein taktiles Bodenleitsystem. An beiden Enden befinden sich jeweils Treppen, also vier insgesamt. Jede Treppe hat Handläufe auf beiden Seiten. Rolltreppen gibt es keine. Jeweils in Fahrtrichtung vorne befindet sich die Einstiegshilfe für Rollstuhlfahrer*innen. Ein Lageplan mit Informationen über das Umfeld des U-Bahnhofs befindet sich oben an der Treppe – was wenig praktikabel ist, da man beim Betrachten des Plans dann den Handlauf und die oberste
Treppenstufe blockiert. An mehreren Stellen auf beiden Bahnsteigen gibt es Sitzgelegenheiten. Sitzflächen und Rückenlehnen bestehen aus Metallgittern. Es gibt keine Armlehnen.
Ein Plakat zwischen den Gleisen enthält den Hinweis „Soundtrax for a Bazaar. Treppe runter“. Es gibt aber auch Aufzüge, die die Hochbahn mit dem Straßenniveau verbinden. Diese befinden sich auf beiden Bahnsteigen ungefähr in der Mitte. Über die Aufzüge ist auch der Ort des geplanten Konzertes unter der Hochbahn zu erreichen. Fahrstreifen für Autos verbinden beide Seiten der Bülowstr. Es gibt einen Parkplatz für Anwohner*innen. Bordsteinkanten sind hier und an den umliegenden Kreuzungen abgesenkt.
Beim Parkplatz befinden sich auch Dixi-Toiletten. Taubenscheiße ist im öffentlichen Raum unter der Hochbahn in großen Mengen vorhanden. Für längere Aufenthalte empfiehlt sich eine Kopfbedeckung oder ein Schirm.
Die umliegenden Kreuzungen haben taktile Bodenmarkierungen und akustische Ampeln. Allerdings sind viele dieser Ampeln teilweise defekt, da häufig einer der zwei Lautsprecher nicht funktioniert.
Es gibt auch Barrieren, die ohne erkennbaren Grund aufgestellt wurden. Barrieren als Selbstzweck.
Die Bahnhofshalle hat zwei große gegenüberliegende Eingänge. Hier ist es in der Regel voll. Es gibt kleine Imbissläden, Fahrkartenautomaten und einen Foto-Automaten.
Von den akustischen Ampeln, die wir getestet haben, war ca. die Hälfte defekt. Immerhin gab es sie an allen Kreuzungen. Abgesenkte Bordsteinkanten und Bodenmarkierungen sind an allen Kreuzungen vorhanden. Das ist in Berlin noch nicht flächendeckend so.
Die Kreuzungen und der Straßenverlauf am Nollendorfplatz sind insgesamt sehr unübersichtlich. Es empfiehlt sich ein Blick auf die Karte vor dem Verlassen des Bahnhofs.
Warum Hilfsbereitschaft nicht die Lösung ist
Laut BVG sind 85 Prozent der U-Bahnhöfe stufenlos erreichbar . Das klingt erst mal gut. Allerdings sind nur 45 Prozent der U-Bahnen (also der tatsächlichen Fahrzeuge) ebenerdig zugänglich. Andersrum formuliert heißt das, dass ein*e Rollstuhlfahrer*in 15 Prozent der U-Bahnen gar nicht erreicht und bei 55 Prozent der restlichen Bahnen darauf angewiesen ist, dass die Fahrer*in aussteigt und die mobile Rampe zum Einsteigen anlegt. Dieser Aufwand ist nicht nur für alle Beteiligten lästig, sondern widerspricht auch der Definition von Barrierefreiheit. Im Paragraph 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes heißt es unmissverständlich: „Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel […], wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.“ Es ist aber eben nicht die allgemein übliche Weise, dass die U-Bahnfahrer*innen am Bahnhof aussteigen müssen. Und die Nutzung der U-Bahn ist auch nicht ohne fremde Hilfe möglich.
Was ist denn so schlimm an Hilfe? Wir sind doch alle verwundbar und auf Hilfe angewiesen. Menschen sind soziale Wesen, kooperieren und helfen einander gerne. Wir reden seit einigen Jahren im Kulturbereich verstärkt über Care (Fürsorge) und Awareness (Achtsamkeit) als positive Konzepte. Zurecht kritisieren wir die Ideologie des autonomen Subjekts, das selbstbestimmt, aber isoliert und rücksichtslos durchs Leben geht. Das Leben ist kein Ego Shooter. Es gibt gute Gründe. Autonomie als neoliberales Konstrukt zu entlarven und zu hinterfragen. Aber das muss dann Konsequenzen für alle Menschen gleichermaßen haben und nicht nur für Menschen mit Behinderung. Solange Autonomie noch den Stellenwert hat, den sie hat, bleibt die Forderung weiterhin „ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“. Hilfe ist oft eine asymmetrische Beziehung, die ein Machtgefälle verstärkt. Sie ist in diesem Sinn vertikal. Am deutlichsten wird das beim Gefühl des Mitleids, das eine Motivation für Hilfe sein kann. Im Gegensatz dazu ist Solidarität eine horizontale Beziehung, die auf Gleichberechtigung beruht. Wir verbünden uns, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen – z.B. Barrierefreiheit im ÖPNV – unabhängig davon, wer im Einzelfall wie viel davon profitieren wird.
Hilfsbereitschaft ist ein Quick Fix, der ein akutes Problem löst, aber nicht langfristig und nachhaltig Strukturen verändert. Dann wird eine Person eben schnell mal die Treppe hochgetragen, weil der Aufzug defekt ist. Und weil es ja durch das Hochtragen scheinbar auch funktioniert, gibt es weniger Druck, den Aufzug zu reparieren. Anstatt in der Marketingabteilung Menschen zu beschäftigen, die sich flotte Sprüche ausdenken, sollte die BVG lieber mehr technisches Personal anstellen, das defekte Züge und Aufzüge reparieren kann.
Ich bin daher skeptisch, ob Begriffe wie Care, Awareness, Herzensangelegenheit und Hilfsbereitschaft geeignet sind, strukturelle Veränderung zu erreichen. Man kann sie leicht so (miss)verstehen, dass sie sich auf Handlungen und Verhältnisse zwischen Einzelpersonen beziehen. Diese persönliche Ebene ist zwar wichtig, aber sie lenkt ab von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Sie nimmt z.B. Stadtverwaltung und Politik aus der Verantwortung, Barrierefreiheit konsequent umzusetzen. Ich möchte nicht, dass U-Bahnfahrer*innen aussteigen und händisch eine Rollstuhlrampe zum Einstieg anlegen. Ich möchte stattdessen, dass die Züge direkt so gebaut werden, dass Barrieren vermieden werden. Menschen mit Behinderung gab es auch schon vor dem Jahr 2009. Sie sind keine neue Erfindung. Die mobile Rampe darf nur die Back-Up Lösung sein, aber nicht der Regelfall. Das ist keine Frage der Haltung oder der zwischenmenschlichen Begegnung, sondern eine Frage von klaren politischen Vorgaben, finanziellen Ressourcen und konkreten Aufträgen an die Firmen, die z.B. U-Bahnen bauen. Die oben genannten Begriffe lenken eher davon ab und verschieben die Verantwortung auf die subjektive Ebene. Die Personen, die wirklich etwas verändern könnten, bekommen von all dem gar nichts mit, weil sie entweder selbst Auto fahren, gefahren werden oder Helikopter fliegen.
Wenn aus dem Fantasieren keine politische Forderung abgeleitet wird, ist es nur eine Realitätsflucht.
Dirk Sorge is a visual artist based in Leipzig and Berlin. He studied Visual Arts at the UdK Berlin and Philosophy at the TU Berlin. His works include videos, installations, performances, and computer programs. His way of working is conceptual and often research-based, e.g. with reference to museum collections or scientific questions. He is interested in the interweaving of (digital) technology, image production and world making. Recurring themes are automation, standardization, irrationality and hierarchization. Rule-based systems are often used to make aesthetic decisions and to question the idea of authorship. As an artist with a visual disability, some works are informed by his activism against ableist structures.
He has been working as cultural educator and consultant for inclusion in Saxony and Berlin for various museums, including the Berlinische Galerie, the Bauhaus-Archive and the State Museum of Archaeology Chemnitz (smac).
Dirk Sorge is a founding member of Berlinklusion, a network that promotes the active participation of people with disabilities in art and culture.