Tanasgol Sabbagh
Tanasgol Sabbagh präsentiert ihre literarischen Arbeiten in Performances, Audiostücken, Videoinstallationen und musikalischen Kollaborationen. Sie ist Mitbegründerin des Künstler*innenkollektivs parallelgesellschaft sowie der gleichnamigen Veranstaltungsreihe, die politische Kunst abseits der deutschen Leitkultur verhandelt. Gemeinsam mit der Lyrikerin Josefine Berkholz ist sie Gründerin des auditiven Literaturmagazins Stoff aus Luft: Ein Format das gesprochene und klangbasierte Literatur in den Vordergrund stellt. Tanasgol lebt in Berlin.
Tanasgol Sabbagh
nah Tanasgol Sabbagh
Es gab eine Zeit, da habe ich in der U-Bahn nicht aufgeschaut, weil ich wusste wie nah wir uns kommen.
Du trugst einen Mantel.
Es gab eine Zeit, in der ich nie aufschauen würde, wir kämen uns nah. Du trugst einen Mantel. Trugst eine Bluse, zugeschnürt trugst du die Schuhe, offen.
Du trugst ein Kind in den Armen.
Es gab eine Zeit in der ich nicht habe aufschauen müssen, um zu wissen, dass du da bist.
Nachts streifte ich durch die Waggons. Morgens setzte ich mich an meinen Platz.
Es gab eine Zeit, da trugst du dein Gesicht halb verborgen hinter der Maske, als eine der letzten, die das tat.
Trugst einen Mantel.
Ein kurzärmliges Shirt. Eine Bluse, vielleicht, ein Kleid, zugeschnürte Schuhe.
Es gab einen Winter, der sich auf der Haut bemerkbar machte. Es gab den Sommer, der aus den Poren quoll.
Es gab eine Zeit in der ich die Luft anhielt.
Ich traute meinen Augen nicht.
Ich traute nicht den Blick zu heben.
In der Bahn, nahmst du deinen Platz ein. durchstreiftest den Wagen. Niemand hat dir einen Morgen versprochen.
Die Kinder legten auf dem Schulweg ihre Hände in die Schlaufen.
Sie zogen sich an der Stange hoch, als könnte sich die gewölbte Decke dehnen und der Boden darüber öffnen.
Es gab eine Zeit, da musste ich nur einmal umsteigen, um dich zu sehen. Jedes mal schluckte mich der Boden.
Jedes mal tauchte ich am Gleisdreieck wieder auf.
Es gab eine Zeit, da konnte ich dich überall sehen. Da warst du der Vater auf der rechten Seite und der Sohn auf der linken, eine Distanz so breit wie ein Gang,
zwei Stationen lang. Und dann wieder Witze, Necken und Streicheln. Nähe, die eine ist. Ich sehe dich,
da trägst du ein Lächeln. Trägst in jeder Hand eine Plastiktüte,
da stehst du am Gleis mit deinem Handy und machst Fotos vom Sonnenuntergang.
Da bist du ein Mädchen mit schulterlangem Haar, die Augen groß für die ältere Schwester, das Ohr gespitzt,
wenn sie spricht, ich habe es gesehen:
wie du mit der ganzen Hand um den Finger deiner Mutter passtest.
Wie du den Mund gegen die Scheibe presstest,
dein Kopf so klein, wie das Tor auf dem Glas.
Es gibt den Frühling, der schnell zu heiß wird,
Es gibt den Herbst.
Ich muss nicht erst aufschauen, um zu wissen, dass es wahr ist.
Es gab eine Zeit, da waren wir uns so fremd, dass du mich nicht gegrüßt hast inmitten deiner Blumen. Ich fragte dich nicht nach deinem Tag.
Ich half dir nicht über die Schwelle.
Ich konnte dir nicht helfen. Nicht einmal die Tür kann ich dir öffnen: Wenn das Geräusch erklingt, ist es immer zu spät.
Ich bin zu spät.
Ich muss nicht erst aufschauen, um zu wissen, dass es wahr ist
Es gab eine Zeit da kannte ich jeden meiner Fehler auswendig,
du konntest es an meinem Kiefer sehen. Ich schaue auf:
An jedem Bahnhof eine Umarmung. An jedem Bahnhof eine Träne. An jedem Bahnhof ein Kuss. Pisse.
Zerrissene Fahrkarten und Müll.
Unbarmherzig schließt sich die Tür. Mein Fuß bleibt darin stecken. Es gab diese Zeit Ich konnte dich sehen:
Da trugst du den Kopf im Nacken Aus deiner Nase tropfte Blut da trugst du einen Mantel.
da trugst du dein Gesicht hinter einem Gähnen
Schlucktest die Wut, da trugst ein Lächeln, sechs Stationen lang. Niemand hat dir einen Morgen versprochen[1], stand im Berliner Fenster,
ansonsten lauter Quatsch. Menschen an Gleisen. Wach oder am Schlafen. An jedem Bahnhof eine Frage.
Ich kann dich noch sehen in der U Bahn,
dein Gesicht, wie meins, halb verborgen hinter dem Disyplay
eine Distanz, so breit wie ein Gang.
Und wie sich unsere Schuhspitzen sachte berühren.Und wie wir die Füße schnell zurückziehen. Wir kämen uns nah.
[1] Marsha P. Johnson
Tanasgol Sabbagh präsentiert ihre literarischen Arbeiten in Performances, Audiostücken, Videoinstallationen und musikalischen Kollaborationen. Sie ist Mitbegründerin des Künstler*innenkollektivs parallelgesellschaft sowie der gleichnamigen Veranstaltungsreihe, die politische Kunst abseits der deutschen Leitkultur verhandelt. Gemeinsam mit der Lyrikerin Josefine Berkholz ist sie Gründerin des auditiven Literaturmagazins Stoff aus Luft: Ein Format das gesprochene und klangbasierte Literatur in den Vordergrund stellt. Tanasgol lebt in Berlin.