Was bedeutet es, für jemanden zu sorgen, wenn die eigene Lebenswelt sich über Zeiten, Sprachen und Kontinente erstreckt? In ihrer Videoarbeit HOW AM I SUPPOSED TO KNOW widmet sich Hải Anh Triệu den alltäglichen Realitäten diasporischer Elternschaft: den Momenten der Fürsorge, dem Suchen nach Verbindung und dem Navigieren zwischen Erinnerung und Gegenwart, eigener Geschichte und kollektiver Erfahrung.
Im Zentrum der Arbeit steht ein Brief – geschrieben in der Nacht des Mauerfalls von einer fiktiven vietnamesischen Vertragsarbeiterin. Hochschwanger verlässt sie Ost-Berlin, überquert die Grenze in eine unbekannte Zukunft. In einfachen, bewegenden Worten beschreibt sie ihre Entscheidung, ihre Flucht und den Versuch, ihrem ungeborenen Kind ein gesichertes Leben zu ermöglichen.
Der Brief ist im Rahmen der gemeinsam mit Cường Phạm erarbeiteten Performance Sonic Chords (2022) entstanden. Ausgangspunkt war die Radiosendung Stimme der Heimat (Tiếng Quê Hương),, die nach dem Mauerfall wöchentlich von und für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen produziert und im deutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Sie berichtete über aufenthaltsrechtliche Entwicklungen und politische Umbrüche, aber auch über persönliche Geschichten, Community-Events und Neueröffnungen. Die Sendung diente den vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in Deutschland nicht nur als Informationsquelle und Gemeinschaftsplattform, sondern war auch Sprachrohr, gab Orientierung und spendete oft einfach auch nur Trost.
Eine akustische Geste der Fürsorge – ein Ort, an dem Gemeinschaft spürbar wurde.
In Triệus Videoarbeit wird dieser semi-fiktionale Rahmen mit dokumentarischem Material verbunden: VHS-Aufnahmen aus dem privaten Familienarchiv (1989–1996) treffen auf aktuelle Szenen aus dem Zusammenleben mit dem eigenen Kind in Deutschland sowie auf alltägliche gegenwärtige Straßenszenen in Hanoi. Diese assoziative, durchaus poetische, Struktur eröffnet einen Raum, in dem Erinnerung nicht linear erzählt wird, sondern stets im Zusammenhang, in einer Miteinander-Verwobenheit, existiert. Es entsteht ein komplexes Gefüge aus Bildern, Klängen und Texten, das sich immer wieder neu zusammensetzt und neu atmet.
Diese intrikate Collage aus Beobachtungen und Momenten ist fragmentarisch, zärtlich, manchmal beiläufig: Ein Kind betrachtet sich in einem Spiegelkabinett, ein anderes spielt auf Spielplätzen in Berlin, klettert Treppen hinauf, durchlebt später einen leichten Wutanfall, der dann durch das andere Kind auf einem Teppich elaboriert wird. Szenen Federball spielender und sich dehnender, zumeist älterer Personen in einem öffentlichen Park in Hanoi durchbrechen diese sehr privaten und vertrauten Momente-mit-Kind. Gemein ist diesen Bildern, dass sie Fürsorge in ihren kleinsten Gesten zeigen. Und gerade darin liegt etwas Widerständiges, denn Fürsorge ist keineswegs nur eine private Angelegenheit. Besonders ihre vermeintliche Gewöhnlichkeit, die in diesen Bildern zum Ausdruck kommt, macht deutlich, welcher Kraftakt die alltägliche Fürsorge birgt.
Einen weiteren narrativen Strang bilden persönliche Sprachnachrichten zwischen Triệu und Phạm. Diese durchziehen das Video als akustische Reflexion künstlerischer und kollaborativer Prozesse und werfen Fragen nach Autor*innenschaft und Elternschaft auf. In den Nachrichten wird über Zusammenarbeit, Fürsorge und Verantwortung gesprochen – Themen, die sowohl in der künstlerischen Praxis als auch in der gelebten Elternschaft eine zentrale Rolle spielen. Dabei wird deutlich: Fürsorge ist nicht nur Handlung, sondern auch Haltung – ein wiederholtes Zuwenden, ein Aufrechterhalten der Verbindung über Zeit und Raum hinweg. HOW AM I SUPPOSED TO KNOW ist ein leises Nachdenken über Erinnerung als gelebte Praxis: Wie lassen sich familiäre Erfahrungen über Generationen hinweg bewahren – und welche Rolle kann die künstlerische Auseinandersetzung dabei spielen? Durch die Fiktionalisierung biografischen Materials gelingt es Triệu, eine Form der Verwandtschaft zu Phạm herzustellen, die auf gemeinsamen Erfahrungen, Emotionen und Perspektiven beruht. Fiktion wird so zu einem verbindenden Raum, in dem neue Formen von Fürsorge und Zugehörigkeit imaginiert werden können.